Burkhard Plemper -
Gespräch mit Fritz Bringmann

Fritz Bringmann hat zehn Jahre KZ hinter sich, von April '35 bis Mai '45, nur kurz unterbrochen. Bis heute ist er aktiv in der "Amicale Internationale" der Organisation ehemaliger Häftlinge, deren Ehrenpräsident er ist. Er lebt in einem kleinen Dorf in Schleswig Holstein.

Fünfzehn Jahre alt ist er gewesen, als sie ihn erwischten, den Lübecker Jungen aus antifaschistischer Familie. "Nieder mit Hitler" hatte er an Häuserwände geschrieben. Die Gestapo hatte schon drei seiner Brüder abgeholt, nun auch ihn. Eine Anklage wegen Hochverrats haben sie ihm angehängt. Die Justiz funktionierte noch, wenn auch langsam. Nach zwölf Monaten das Urteil: Zwei Jahre Haft. Die Untersuchungshaft wurde angerechnet, der Rest zur Bewährung ausgesetzt, der Haftbefehl aufgehoben. Fritz Bringmann dachte, er hätte es überstanden.
"Und am nächsten Morgen stand die Gestapo mit einem Schutzhaftbefehl vor der Tür. "Was das war, wußte er nicht. "Wer kannte schon die Schutzhaft, dass die eben eine Polizeimaßnahme ist, wo es kein Rechtsmittel gegen gab? Diese Unsicherheit - das mußte man einfach ertragen, das konnte man nur hinnehmen."

Nach Sachsenhausen haben sie ihn gebracht, ein "Umschulungslager" sollte das sein. Es war ein KZ. Von früh bis spät mußte er schuften, das Lager aufbauen, für die vielen Häftlinge, die noch kommen sollten. 1940 haben SS-Leute ihn dann vor die Tore Hamburgs verschleppt. Auch hier mußten die Gefangenen ihren eigenen Kerker errichten. Von diesem Lager Neuengamme aus kam er zu Arbeitseinsätzen nach Osnabrück und Bremen.

Nach einem halben Jahr hätte die Schutzhaft aufgehoben werden können. Bei Fritz Bringmann dauerte sie 10 Jahre. Bis zum 17. Mai '45, zehn Tage nach Kriegsende. Erst da ließen ihn die Alliierten in Bremen laufen. "Die haben erst die Akten eingesehen, im Zuchthaus Oslebshausen. Die haben nicht einfach irgendwelche entlassen, sondern die haben echt geprüft, wer aus politischen Gründen inhaftiert war, dann wurden sie entlassen."
Sechzig Jahre ist das her. Und noch heute hat er das Grauen vor Augen, das Elend, die Mißhandlung, die Ermordung der Mitgefangenen. Dabei war Neuengamme kein Vernichtungslager wie etwa Auschwitz. "Aber wir haben ja in Neuengamme auch zwei Vergasungen gehabt. Und ich will Ihnen sagen: Die Vergasung, die ich noch in Neuengamme miterlebt habe, die Depression, die dadurch ausgelöst worden ist, die war ganz schlimm. Und dann diese makabre Geschichte während des Abendappells - wird die Tür zum Bunker geöffnet, und man sieht da ineinander verkrampft die Toten liegen. Und dann noch die Provokation, dass wir das Lied singen mussten: 'Willkommen, frohe Sänger, seid gegrüßt, viel tausend Mal, den heutigen Tag zu ehren. Lasst uns singen, dass es laut erschallt. Tralala, tralala.' Diese makabre Sache - das ist unvergesslich."

Die KZ-Häftlinge waren keine einheitliche Gruppe. 106.000 Gefangene aus über zwanzig Nationen waren in Neuengamme eingekerkert. 55.000 von ihnen wurden umgebracht oder starben an den Folgen der Gefangenschaft. "Eine der schlimmsten Einrichtungen war diese Kategorisierung im Konzentrationslager", erinnert sich Bringmann. Er war einer der politischen Gefangenen, einer mit dem roten Winkel. Es gab die Bibelforscher, wie die Zeugen Jehovas genannt wurden, die Schwulen mit dem Rosa Winkel, die Juden, Roma und Sinti und die sogenannten BVer, "Befristete Vorbeugehäftlinge" intern die "Berufsverbrecher" genannt. Sie - ist oft zu lesen - seien besonders anfällig dafür gewesen, sich von der SS instrumentalisieren zu lassen, andere Häftlinge zu quälen, schließlich hatten sie zuvor wegen krimineller Delikte eingesessen. "Das übersehen die meisten, dass denen genauso Unrecht angetan wurde wie den Schutzhäftlingen, "empört sich der ehemalige Gefangene. "Denn ihre Strafe hatten sie verbüßt, und dann kam diese Vorbeugungshaft. Das war auch eine willkürliche Sache. Sehen Sie, die Gerichte haben ja sonst Sicherungsverwahrung ausgesprochen, aber das war dann eine klare rechtliche Sache. Aber so als Vorbeugungshäftling abgestempelt zu werden, das ist meiner Meinung nach auch eine Willkür des Staates gewesen."

Immer wieder gab es Versuche der SS, Gefangene für ihre Zwecke einzuspannen. Fritz Bringmann erinnert sich:
"1942 erging von Berlin eine Anweisung, der Strafvollzug solle von Häftlingen ausgeführt werden, d. h. Häftlinge sollten ihre Mithäftlinge auspeitschen, wenn sie zu 25 oder 50 Hieben verurteilt waren, Häftlinge sollten die Aufhängung von Häftlingen machen, wenn es eben diese Aufhängungsstrafe gegeben hat. Es gab Meinungen: 'Wenn das ein Häftling macht, wenn ich das machen muss, brauche ich ja nicht so heftig zuschlagen.' Das ging aber ja so weit, dass sie auch genauso die Häftlinge zum Töten einsetzen konnten. Die Position der Politischen war in Neuengamme zu der damaligen Zeit sehr eindeutig. "Nämlich sich nicht von den Schergen mißbrauchen zu lassen. Unklar war, ob die "Asozialen" und die "BVer" auch zu diesem Entschluß standen:

"So, jetzt sollte der erste Strafvollzug auf dem Appellplatz vor dem angetretenen Lager stattfinden. Und der Lagerführer, ein alter, erfahrener SS-Mann, suchte den Vorarbeiter, den ersten Mann vom Klinkerwerk in Neuengamme. Dann wurde der Bock auf den Appellplatz gebracht, der Häftling, der geprügelt werden sollte, wurde rausgeholt, festgeschnallt auf dem Bock, und dann ließ er diesen ersten Kapo rufen. Der verweigerte den Befehl, wo er überhaupt nicht mit gerechnet hatte. Erst einmal hatte der eine solche Spitzenfunktion im Lager eingenommen als erster Vorarbeiter des Klinkerwerks, und dann mit einem grünen Winkel - das hatte er sich nicht gedacht. Dieser Kapo konnte schon Ohrfeigen austeilen und jemanden auch verprügeln. Aber in diesem Moment war ja seine Ehre angekratzt. Er sollte als der oberste Mann im Klinkerwerk auf Geheiß des Lagerführers einen Stock nehmen und jemanden verprügeln, zu dessen Strafe er überhaupt kein Verhältnis hatte. Das hat er verweigert. Der ist dann von dem Lagerführer auf dem Appellplatz mit der Peitsche bearbeitet worden, wurde in den Bunker geworfen.

Und dann gab es eine kleine Weitergeschichte. Den ersten Tag, als er im Bunker war, als er nicht mehr zur Arbeit ausrückte, da war Solidarität unter den anderen Vorarbeitern. Hier lief das nicht, da lief das nicht. Den ersten Tag haben sie das so hingenommen, den zweiten Tag so hingenommen. Und dann merkten sie aber mit ihrer Produktion, dass sie hinten dran hingen. Und dann haben sie ihn morgens aus dem Bunker 'rausgeholt, er ist mit ausgerückt, aber mit so einem Vertrauenskreuz - das können Sie sich gar nicht vorstellen! - von Seiten der Häftlinge, durchgängig aller Häftlinge! - und abends ging er dann wieder in den Bunker. Das Spielchen hat man dann so acht oder zehn Tage gemacht, bis man ihn dann seine Funktion machen ließ. Und da sah man, wie man auch mit jemandem umgehen konnte, der den Befehl zur Misshandlung verweigerte."

Untereinander geholfen haben sie sich. Etwa, wenn ein Mitgefangener exekutiert werden sollte. Dann haben sie ihn in der Krankenbaracke versteckt und den SS-Leuten einen gerade Gestorbenen als den Gesuchten präsentiert. Eine große Verantwortung war das für den jungen Häftlingssanitäter Bringmann. Denn auch er hat sich widersetzt:

"Also, ich weiß nicht, ich habe das gar nicht als etwas Besonderes für mich angesehen", wehrt er bescheiden ab. "Wissen Sie, wenn man Jahre lang Häftlingen geholfen hat, sie aufgepäppelt hat - man hat gerungen, um deren Leben zu erhalten - und jetzt plötzlich bekommt man den Befehl, Häftlinge mittels Injektionen zu töten - ich will Ihnen sagen: Nachdenken, das gab es überhaupt nicht. Das war eine ganz, ganz spontane Reaktion, dass ich gesagt habe: Das kann und das mache ich nicht. Der SS-Mann hat mich darauf aufmerksam gemacht, das ist ein Befehl des Lagerarztes und des Standortarztes. Aber für mich war da eine Grenze. Einen Mithäftling zu töten, wissen Sie, da hätte ich mich zu gleicher Zeit mit getötet."

Mißhandelt wurde er dafür, aber mißhandelt wurden ja alle, zuckt er mit den Schultern. Das Bewußtsein, daß ihm Unrecht geschah, habe ihn aufrecht gehalten und der eiserne Wille, dieses Unrecht zu überleben. Entkommen konnte er nicht, der Elektrozaun war unüberwindbar. Und in den Zaun gesprungen, um sich den tödlichen Stromschlag zu holen, ist er auch nicht. "Nein, wissen Sie, ich bin überhaupt nicht geflohen. Ich habe bei Misshandlungen und Tötungen anderer nie weggesehen, sondern mit einem Hassgefühl habe ich solche Szenen erlebt. Und ich muss sagen, das Hassgefühl hat mir innere Stärke vermittelt."

Widerstand gab es innerhalb des Lagers. Er ging aber nicht so weit wie etwa im ostpolnischen KZ Sobibor, in dem die Häftlinge einen Aufstand organisierten. "In Neuengamme ist da auch mal drüber diskutiert worden. Insbesondere durch die sowjetischen Kriegsgefangenen ausgelöst, als sie merkten, dass sie in Neuengamme nicht überleben würden.
Selbstverständlich kommen dann Gedanken: Wie können wir, wenn das Leben sowieso verloren ist, das noch so teuer wie möglich verkaufen oder sogar die Freiheit erringen und in unsere Heimat zurückkehren? Solche Überlegungen hat es gegeben. Das stieß aber bei anderen Gruppen auf Widerstand, die nicht so dieser Vernichtung ausgesetzt waren. Das muss man auch klar sagen. Aber auf der anderen Seite - da saßen ja auch Militärs bei, die dann gesagt haben: 'Welche Chancen haben wir hier, im feindlichen Land, auszubrechen, um hunderte von Kilometern in das Gebiet zu kommen, wo die Bevölkerung den Deutschen gegenüber feindlich ist? Hier müssen wir uns durch das Gebiet und die Feindschaft der Menschen bewegen, bis wir dort hinkommen.' Dieser Gedanke wurde dann verworfen, einfach weil sie sich auch gesagt haben: Erst einmal wäre das vielleicht schwer gewesen, alle nationalen Gruppen auf diesen Nenner zu bringen. Und wenn nicht alle mitgemacht hätten, dann wäre das sowieso von vornherein zum Scheitern verurteilt gewesen.

Der entscheidende Unterschied war aber die Lage von Sobibor im Osten Polens: "Die Bevölkerung war den Deutschen gegenüber feindlich. Man konnte da mit Unterstützung der Bevölkerung rechnen, währenddem man hier in Deutschland - also auf keinen Fall, die hätten uns sogar noch ausgeliefert und hätten die Polizei informiert."

Was blieb, war die Hoffnung, zumindest bei ihm, der überlebt hat. Zehn Tage nach Kriegsende wurde er erst entlassen, in Bremen, nachdem die Alliierten sorgfältig geprüft hatten, daß er auch tatsächlich aus politischen Gründen inhaftiert war. Die Hoffnung hat ihn am Leben gehalten, der Hass hat ihm die innere Stärke gegeben. Die hat er auch noch nach der Befreiung gebraucht, als schon kurz nach dem Krieg in Ämtern und Behörden wieder diejenigen saßen, die zuvor treu und brutal ihrem Führer gedient hatten. Er hat die Kraft bis heute gebraucht für den jahrzehntelangen Kampf, bis der blutgetränkte Boden des KZ's vor den Toren Hamburgs nicht länger als Gefängnis genutzt wurde. Jetzt ist es geschafft. Neuengamme wird ein Ort des Erinnerns und Gedenkens.

http://www.puppe-hoffnung.de | Eva Borcherding | 11.2006